„Mein Kind ist beim Probetraining schüchtern – und ich gleich mit.“

Warum Eltern manchmal mehr lernen müssen als ihre Kinder

Manchmal ist der größte Entwicklungsschritt im Kindertraining nicht der des Kindes – sondern der der Eltern.

Gerade beim allerersten Probetraining treten plötzlich Unsicherheiten auf, die mit dem Kind selbst wenig zu tun haben. Stattdessen geht es um Erwartungen, Ängste und vor allem: Projektionen.

Die Bühne gehört dem Kind – aber die Eltern betreten sie zuerst

Noch bevor ein Kind überhaupt die Matte betritt, haben viele Eltern längst ein inneres Drehbuch im Kopf:

„Mein Kind ist eher schüchtern.“

„Es hat manchmal Probleme, sich zu konzentrieren.“

„Er mag keinen Körperkontakt.“

„Sie ist ein bisschen wild – ich hoffe, das ist okay.“

Und so stehen sie am Mattenrand und sprechen laut über ihr Kind, als wäre es nicht da.

Das ist selten böse gemeint – oft sogar als Schutzreflex. Doch es passiert auf Kosten des Kindes.

Denn: Wer seinem Kind unbewusst ein Etikett verpasst, gibt damit die Richtung vor, in die es sich bewegen soll.

Warum das so problematisch ist

1. Das Kind hört mit – und glaubt es irgendwann selbst

Kinder saugen auf, was über sie gesagt wird. Wenn ein Elternteil betont, dass ein Kind „immer Schwierigkeiten mit anderen Kindern hat“, wird es genau das verinnerlichen.

Die Folge? Das Kind verhält sich so, wie man es ihm zuschreibt – nicht unbedingt so, wie es eigentlich ist.

2. Das Kind verliert die Verantwortung für sich selbst

Wenn Eltern ständig für das Kind sprechen („Er will das jetzt so machen, oder?“), entsteht eine gefährliche Dynamik:

Das Kind lernt, dass andere Menschen über sein Erleben sprechen.

Statt Fragen selbst zu beantworten, lässt es sich vertreten.

Statt eigene Gefühle zu formulieren, wird es passiv.

3. Das Kind spürt: Hier ist gerade etwas komisch

Wenn Eltern nervös sind, sich ständig rechtfertigen oder sogar Druck machen („Du wolltest das jetzt probieren, also zieh’s durch!“), überträgt sich diese Anspannung.

Das Kind merkt: „Hier geht’s um mehr als nur ein Training.“

Aber was genau? Leistung? Erwartungen? Angst vor Blamage?

Warum Eltern so handeln – und was sie stattdessen tun könnten

🔍 Grund 1: Eigene Unsicherheiten

Ein Kind beim Kampfsport anzumelden ist eine große Sache. Man will, dass es „funktioniert“. Dass das Kind Spaß hat. Dass es sich gut benimmt.

Viele Eltern spüren (oft unbewusst) ein Gefühl der Kontrolle verlieren – und reagieren mit Übersteuerung.

👉 Was hilft:

Sich selbst beruhigen.

Erlauben, dass das Kind seine Erfahrung macht.

Nicht perfekt sein müssen – weder das Kind, noch man selbst.

🔍 Grund 2: Erwartungen und Projektionen

Oft sehen Eltern im Kind eine Art „Version 2.0“ ihrer selbst.

Ein Vater, der als Kind selbst gemobbt wurde, wünscht sich vielleicht ein starkes, selbstbewusstes Kind – und hofft, dass BJJ genau das bewirkt.

Oder: Eine Mutter, die nie den Zugang zu Sport gefunden hat, wünscht sich, dass ihre Tochter das alles ganz anders erlebt.

👉 Was hilft:

Sich bewusst machen: Mein Kind ist nicht ich.

Es wird seinen eigenen Weg finden – und ich darf neugierig zusehen, statt den Weg vorzugeben.

🔍 Grund 3: Überverantwortung

Viele moderne Eltern sind stark involviert. Sie wollen „alles richtig machen“, nichts verpassen, jede Entwicklung begleiten.

Das kann leicht kippen in ein ständiges Eingreifen, Mitreden, Steuern.

👉 Was hilft:

Vertrauen.

Nicht in das System oder den Trainer – sondern ins eigene Kind.

Die erste Stunde ist kein Referat. Es darf neugierig, ungeschickt und still sein. Und vor allem: Es darf selbst erleben.

Wie wir im Training damit umgehen – und warum es funktioniert

In meinem Gym sprechen wir beim Probetraining fast ausschließlich mit dem Kind – nicht über das Kind.

Wir begrüßen das Kind direkt, fragen es nach seinem Namen, wie es ihm geht, erklären, was gleich passiert.

Wenn ein Elternteil sofort einspringt und antwortet, sagen wir freundlich, aber bestimmt:

„Ich rede mit deinem Sohn – keine Sorge, das klappt schon.“

Oder: „Gib ihm ruhig einen Moment – wir machen das zusammen.“

Diese Klarheit wirkt manchmal ungewohnt. Aber sie ist wichtig.

Denn genau so beginnt Selbstwirksamkeit.

Ein Kind, das sich ernst genommen fühlt, wächst.

Ein Kind, das für sich sprechen darf, beginnt, sich zu zeigen.

Was Eltern stattdessen tun können

✅ Dem Kind Raum geben:

Es ist sein Moment. Lass es selbst entdecken, staunen, fragen.

✅ Zuhören statt erklären:

Wenn dein Kind aus dem Training kommt – frag, wie es war.

Nicht: „Hat’s Spaß gemacht?“

Sondern: „Was war spannend? Was war neu?“

✅ Vertrauen zeigen:

Auch wenn dein Kind erstmal schüchtern, still oder überfordert wirkt – das ist okay.

Niemand muss beim ersten Training glänzen.

Es geht ums Dabeibleiben, nicht ums Gewinnen.

Fazit: Dein Kind braucht keinen Pressesprecher

Es braucht einen Begleiter, einen sicheren Hafen – aber keinen Dolmetscher für jede Unsicherheit.

Wenn du deinem Kind erlaubst, selbst zu erleben, gibst du ihm das größte Geschenk:

Die Erfahrung, dass es gesehen, gehört und respektiert wird.

Und ja – manchmal braucht es Mut, sich als Elternteil zurückzunehmen.

Aber genau dieser Mut macht den Unterschied.

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