Die Geschichte des Brazilian Jiu-Jitsu – und wie es wirklich entstanden ist

1. Die Wurzeln in Japan: Jiu-Jitsu und Judo

Brazilian Jiu-Jitsu (BJJ) geht historisch auf die japanischen Kampfkünste zurück, insbesondere das klassische Jiu-Jitsu (auch: Jujutsu), das im feudalen Japan von den Samurai zur Selbstverteidigung in Rüstung praktiziert wurde. Dieses Jiu-Jitsu war kein einheitliches System, sondern bestand aus Dutzenden von Stilrichtungen, die sich alle mit Würfen, Hebeln, Bodenkampf, Tritten und Schlagen beschäftigten.

Anfang des 20. Jahrhunderts begann Jigoro Kano (1860–1938) eine Reform dieser traditionellen Stile. Er wollte den Fokus weg von den oft lebensgefährlichen Anwendungen hin zu einem sportlich-sicheren, pädagogisch fundierten System verschieben: Judo. Kano entfernte viele Techniken aus dem klassischen Jiu-Jitsu und systematisierte die Lehre. Besonders wichtig war ihm das Prinzip des Widerstandstrainings (Randori).

Kano gründete 1882 das Kodokan in Tokio. Aus diesem Kodokan-Judo entwickelte sich technisch und konzeptionell später auch das Brazilian Jiu-Jitsu.

2. Der Weg nach Brasilien: Maeda und der globale Siegeszug des Judo

Mitsuyo Maeda (1883–1944), ein Schüler von Kano, war einer der frühesten und aktivsten Verbreiter des Judo weltweit. Er bereiste ab 1904 Nordamerika, Europa und letztlich Südamerika, um kämpferisch Werbung für das Kodokan-System zu machen. Dabei trat er auch gegen Boxer, Ringer und Catch-Wrestler an. Diese Art von Schaukämpfen war populär, entsprach aber nicht mehr dem Ideal von Kano.

In Brasilien ließ sich Maeda 1914 nieder. Er trat dort unter dem Namen Conde Koma auf und präsentierte sein System meist als "Jiu-Jitsu", weil "Judo" noch weitgehend unbekannt war. Er unterrichtete unter anderem Carlos Gracie, einen der Söhne von Gastão Gracie, der Maeda bei seiner Niederlassung unterstützte.

3. Die Gracies und der Beginn von Brazilian Jiu-Jitsu

Carlos Gracie lernte ab ca. 1917 bei Maeda und begann später selbst zu unterrichten. Er gab sein Wissen an seine Brüder weiter, besonders an Hélio Gracie, der laut Gracie-Familie aufgrund körperlicher Schwäche viele Techniken modifizierte. Diese Geschichte wird häufig romantisiert erzählt. Tatsächlich ist unklar, wie viel direkter Unterricht von Maeda stattgefunden hat. Laut Aussage von Robert Drysdale gibt es keine primären Quellen, die eine längere Meister-Schüler-Beziehung zwischen Maeda und Carlos belegen (vgl. Drysdale, "Opening Closed Guard", 2020).

Die Gracie-Familie entwickelte aus dem Gelernten ein eigenes System, das mit der Zeit zunehmend auf den Bodenkampf fokussiert wurde. Häufig wird gesagt, Hélio habe Jiu-Jitsu für kleinere, schwächere Menschen angepasst. Technisch bedeutet das: weniger explosive Würfe, mehr Guardarbeit, Kontrolle und Submissions.

4. Bodenkampf statt Wurfkunst: Die Spezialisierung

In der frühen Phase trainierten die Gracies noch ein sehr judoähnliches System. Später aber verlagerte sich der Fokus immer stärker auf den Bodenkampf. Das lag unter anderem daran, dass man auf der Straße oder in den Vale-Tudo-Kämpfen schneller die Kontrolle behalten konnte, wenn der Kampf am Boden war.

Zudem spielte eine große Rolle, dass viele ihrer Gegner nicht auf Bodenkampf vorbereitet waren. Aus dieser Spezialisierung entstand ein hochgradig effizientes Subsystem, das sich vom japanischen Judo zunehmend entfernte.

5. Luta Livre, Fadda und andere Linien

Die Geschichte des BJJ ist nicht allein die Geschichte der Gracies. Oswaldo Fadda, ein anderer früher Schüler des japanischen Jiu-Jitsu, unterrichtete in den 1940er Jahren vor allem in ärmeren Gegenden. Seine Schüler hatten einen besonderen Fokus auf Beinhebel und bodenlastiges Training.

Parallel dazu entstand in Brasilien auch das Luta Livre Esportiva, ein No-Gi-System mit Ähnlichkeiten zum Catch Wrestling. Diese Schulen waren lange stigmatisiert. Die Rivalität zwischen Gracie Jiu-Jitsu und Luta Livre prägte die 80er- und frühen 90er-Jahre stark.

6. Die Rolle von Catch Wrestling und Vale Tudo

Ein erheblicher Teil der heutigen Techniken im BJJ (besonders im No-Gi-Bereich) hat Parallelen zu Catch-as-Catch-Can Wrestling. Das betrifft unter anderem den Kimura-Griff, diverse Beinhebel, Wristlocks und Cradles. Ob Maeda diese Techniken übernahm oder ob sie später durch Sparring mit Luta-Livre-Kämpfern und internationalen Grapplern ins BJJ gelangten, ist historisch nicht eindeutig geklärt.

Der Vale-Tudo-Kontext war aber entscheidend: Nur was im Kampf funktionierte, blieb bestehen. So wurde BJJ von Anfang an nicht als festgelegtes Curriculum, sondern als lebendiger Prozess verstanden.

7. Die Geburt der UFC und der globale Siegeszug

Die Gracie-Familie, besonders Rorion Gracie, hatte in den 80er-Jahren das Ziel, ihr System international bekannt zu machen.

1993 organisierte Rorion gemeinsam mit Art Davie die erste Ultimate Fighting Championship (UFC). Der damals schmale Royce Gracie trat gegen Kämpfer aus anderen Stilen an und besiegte sie durch Bodenkontrolle und Submissions.

Diese Events waren der Beweis für die Wirksamkeit des Systems gegen unvorbereitete Gegner – nicht unbedingt gegen erfahrene Ringer oder Grappler. Trotzdem entwickelte sich dadurch das moderne MMA.

Die Inszenierung war bewusst so gestaltet, dass es wie ein "echter Kampf der Stile" wirkte. Viele dieser Gegner wussten aber nicht, worauf sie sich einließen. Laut Aussagen von Zeitzeugen (z. B. Ken Shamrock in Interviews) waren Regeln, Runden und Ausrüstung teils zu Gunsten von Royce angepasst worden.

8. Fazit: Eine Mischung aus Anpassung, Kampf und Marketing

Brazilian Jiu-Jitsu ist kein reines Erbe Japans, keine Erfindung einer Familie und kein abgeschlossenes System. Es ist ein Hybrid:

  • Technisch geprägt durch Judo, Catch Wrestling und Bodenkampf

  • Geformt durch die Straßenkämpfe Brasiliens und die Herausforderungen des Vale Tudo

  • International verbreitet durch geschickte Vermarktung, vor allem durch die Gracies

Was BJJ besonders macht, ist die Offenheit: Jede Technik muss sich im Sparring beweisen. Dadurch ist es kein Museum, sondern eine dauerhaft lebendige Kampfkunst.

Quellenhinweis: Viele Aussagen zur Entstehungsgeschichte stammen aus dem Buch "Opening Closed Guard" von Robert Drysdale (2020) sowie aus der gleichnamigen Dokumentation. Weitere Informationen aus Interviews mit historischen Figuren (z. B. Pedro Sauer, Ken Shamrock) sowie Artikelreihen in "Jiu-Jitsu Times" und "Bloody Elbow".

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Wie man eine BJJ-Technik wirklich studiert – und was die meisten dabei falsch machen

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„Wenn das, was du trainiert hast, einfach nicht passiert“(Warum Spezialisierung wichtig ist – aber gefährlich wird, wenn du vergisst, wie Realität funktioniert)