„Wenn das, was du trainiert hast, einfach nicht passiert“(Warum Spezialisierung wichtig ist – aber gefährlich wird, wenn du vergisst, wie Realität funktioniert)

Es gibt im BJJ ein Gefühl, das viele kennen, aber selten aussprechen:

Du hast eine Technik oder ein Konzept über längere Zeit trainiert,

du hast dich damit beschäftigt, mitgedacht, sogar getüftelt –und jetzt willst du endlich sehen, wie es im Sparring funktioniert.

Und dann… passiert nichts davon.

Dein Gegenüber reagiert ganz anders als gedacht.

Er gibt dir nicht die Bewegung, auf die deine Technik ausgelegt ist.

Er stellt dich vor eine ganz andere Frage.

Und obwohl du rein logisch weißt, dass das vorkommen kann,

fühlt sich die Runde irgendwie unbefriedigend an.

Diese Situation ist kein Zeichen dafür, dass du schlecht bist.

Im Gegenteil: Sie zeigt, dass du ambitioniert bist.

Dass du nicht einfach irgendwas machst, sondern versuchst, etwas gezielt umzusetzen.

Das ist der Anfang von echtem Fortschritt.

Ohne Fokus kein Detail, ohne Detail keine Kontrolle, ohne Kontrolle kein echtes Spiel.

Wer im BJJ besser werden will, muss sich spezialisieren.

Man muss sich auf bestimmte Positionen einlassen, Zeit investieren,

die Fehlerquellen entdecken, Lösungen bauen, Reaktionen antizipieren.

Und genau darin liegt der Wert – und gleichzeitig die Gefahr.

Denn Spezialisierung erzeugt Erwartungen.

Nicht nur technische – sondern emotionale.

Wenn du dich tagelang mit einer bestimmten Art von Backtakes beschäftigst,

dann wünschst du dir im Sparring irgendwann, dass du auch endlich mal am Rücken landest.

Wenn du wochenlang Leglocks trainierst, wünschst du dir,

dass der andere auch irgendwann mal in deine Ashi-Position fällt.

Und wenn das nicht passiert – wenn du nicht mal dorthin kommst,

fühlst du dich plötzlich blockiert.

Oder sogar genervt.

Und oft (und das ist der eigentliche Punkt):Nicht von dir – sondern vom anderen.

Das passiert subtil.

Man fängt an, Leute zu bewerten nach dem, was sie einem selbst ermöglichen.

Man denkt:

„Mit dem kann ich nichts machen.“

„Der reagiert falsch.“

„Der macht eh nur Chaos.“

„Der blockt alles.“

Und übersieht dabei:

Der macht genau das, was für ihn funktioniert.

Und vielleicht gewinnt er die Runde genau deswegen.

Aber weil es nicht das ist, was wir selbst brauchen, um unser Thema umzusetzen,

werden wir frustriert.

Nicht, weil der andere „schlecht“ wäre – sondern weil er nicht in unser Drehbuch passt.

Und genau da liegt der Denkfehler:

Wenn du dein BJJ aufbaust wie eine Theateraufführung,

in der der andere exakt die Rolle spielt, die du brauchst,

dann baust du nicht dein Game –du baust eine Szene.

Und du brauchst jedes Mal einen passenden Statisten.

Aber so funktioniert keine Sparringsrunde.

Und schon gar kein Wettkampf.

Realität lässt sich nicht zwingen.

Der andere schuldet dir keine Reaktion.

Er ist kein Dummy.

Er ist nicht dazu da, dein Konzept zu bestätigen.

Er spielt sein eigenes Spiel.

Und er darf das.

Je besser dein Partner, desto seltener wirst du genau die Positionen bekommen,

in denen du gerade zuhause bist.

Und desto wichtiger wird eine Fähigkeit,

die in keiner Technikdetail-Besprechung steht:

Anpassung.

Was bedeutet das konkret?

Es bedeutet nicht, dass Spezialisierung falsch ist.

Sondern dass Spezialisierung in ein offenes System eingebettet werden muss.

Beispiel:

  • Du trainierst Leglocks – super.

    Aber du musst wissen: Wie kommst du dahin? Wie provozierst du bestimmte Reaktionen?Und was tust du, wenn der andere dir das alles verwehrt?

  • Du arbeitest an deinem Guard Passing? Perfekt.

    Aber was tust du, wenn du gar nicht zum Control Grip kommst?

    Oder wenn du unter Druck gerätst, bevor du deinen ersten Schritt gemacht hast?

  • Du hast drei Layer für eine bestimmte Submission?

    Sehr gut.

    Aber was tust du, wenn der andere dir nicht mal die Base gibt?

    Wenn er dich vorher sweeped oder deinen Arm isoliert?

Noch ein Problem: Der emotionale Effekt

Weil wir emotional an unsere Trainingsinhalte gebunden sind,

wird das Scheitern daran schnell als persönlicher Rückschlag empfunden.

Nicht nur technisch – sondern als Frust, als Bewertung,

teilweise sogar als Groll gegen den Trainingspartner.

Und daraus folgt oft eine stille Vermeidung:

„Mit dem trainiere ich nicht gerne.“

Oder schlimmer:

„Der passt nicht zu mir.“

Und man sucht sich lieber Partner, bei denen das eigene Thema durchkommt.

Das ist verständlich – aber auch gefährlich.

Denn so wächst du nicht.

Was also tun?

  • Trainiere fokussiert, aber rechne mit Störungen.

    Du musst jederzeit aus deiner Linie rauskommen können.

  • Lerne, dein Thema „anzubieten“, statt es zu erwarten.

    Baue den Kontext, der deine Spezialtechnik möglich macht –aber sei bereit, wenn das nicht klappt.

  • Arbeite an deinem Reaktionssystem.

    Nicht alles beginnt mit deinem Move.

    Vieles beginnt mit dem, was der andere tut.

    Und deine Antwort darauf entscheidet, wie weit du überhaupt kommst.

  • Beobachte deine Emotionen.

    Wenn du genervt bist, frag dich:

    Bin ich enttäuscht, weil ich nichts machen konnte –oder nur, weil ich nicht DAS machen konnte, was ich geplant hatte?

Letzter Gedanke:

Es ist richtig, wenn du tief in Themen eintauchst.

So entsteht Qualität.

Aber verliere nicht den Überblick.

Die Techniken sind wie Werkzeuge – keine Gesetze.

Und ein Werkzeug funktioniert nur spezifisch. Einen Hammer in eine Schraube hauen ist sinnlos.

Je besser du wirst, desto mehr brauchst du Anpassungsfähigkeit.

Nicht nur technisch – sondern auch psychologisch.

Denn am Ende ist BJJ kein Theaterstück.

Es ist ein Gespräch.

Und gute Gespräche entstehen nicht, wenn einer das Skript vergisst –sondern wenn beide zuhören und antworten können.

📌 Zusammenfassung:

  • Spezialisierung ist wertvoll – aber sie erzeugt emotionale Erwartungen.

  • Wenn dein Thema nicht funktioniert, liegt das oft nicht an dir –sondern daran, dass der Kontext fehlt.

  • Der andere schuldet dir keine Reaktion.

  • Dein System muss flexibel bleiben, sonst arbeitest du mit einem Plan für ein Spiel, das nicht läuft.

  • Emotionale Frustration ist ein Hinweis, kein Urteil.

  • BJJ ist dynamisch – deine Anpassung entscheidet.

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Die Geschichte des Brazilian Jiu-Jitsu – und wie es wirklich entstanden ist

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Wenn das Feuer zu schnell brennt